Schon mal was von Erdung gehört?

Oben & unten – die zwei Seiten einer Münze

In der Alexander-Technik arbeiten wir mit körperlich-räumlichen Richtungen, den so genannten „directions“. Man hört zum Beispiel die Anweisung  „nach oben zu denken“ und manche haben vielleicht auch schon den etwas schwammigen Begriff „Anti-Gravity“ gehört. Bei anderen Körpertechniken, beim Tanz oder beim Sport fallen oftmals Begriffe wie „Erdung, sich verwurzeln, den Kontakt mit dem Boden suchen“. Stehen diese Aussagen im Widerspruch zueinander und was kann man sich genau darunter vorstellen?

Welche Faktoren sind für eine gute Koordination im Menschen zuständig  und wie können wir mit ihnen arbeiten? Meine Überlegungen beziehen sich auf die sogenannten „directions“, die in der Alexander-Technik eine bedeutende Rolle spielen. Um eine gute Koordination aufrecht zu erhalten, hat F.M. Alexander körperlich-räumliche Richtungen beschrieben. Diese Richtungen sollen dabei helfen die natürliche Koordination besser zu verstehen und auch während einer Aktivität aufrecht zu erhalten.

Für alle am Land lebenden Wesen hat die Schwerkraft eine entscheidende Auswirkung. Ihr Kraftvektor zeigt immer Richtung Erdmittelpunkt. Vereinfacht kann man sagen, dass die Schwerkraft von oben nach unten wirkt. Diese Richtung ändert sich nicht, ganz egal welche Position wir einnehmen; ob wir liegen oder sitzen, ob wir stehen oder laufen, in welche Richtung wir uns auch immer bewegen.

Damit wir uns unter diesen Bedingungen fortbewegen können, müssen wir mit der Schwerkraft kooperieren, sie für uns nutzen und ihr eine ausgleichende Kraft entgegensetzen. Unser Organismus stellt Mechanismen zur Verfügung, die in jedem Moment dafür verantwortlich sind ein fragiles Gleichgewicht herzustellen. Ob wir krabbeln, liegen oder sitzen, es sind immer fein justierte Mechanismen am Werk, die eine feine Balance herstellen.

Erdung durch Ausrichtung

Was wir auch tun, die ganze Zeit werden unzählige Signale durch unser Nervensystem geschickt, die dafür verantwortlich sind unsere Balance aufrechtzuerhalten. Bewegung ist in diesem Sinne ständig vorhanden, auch wenn sie kaum zu sehen ist. Auch das Stehen ist so gesehen ein dynamischer, fließender Akt der Balance.

Um diesen lebendigen Austausch mit der Schwerkraft herzustellen, spielen nicht nur unsere knöchernen Strukturen eine entscheidende Rolle. Wenn man ein Skelett vor sich hinstellt, fällt es in sich zusammen. Die Muskel, Bänder und Faszien wirken mit allen anderen Strukturen zusammen und bilden einen dynamischen Gegenpol aus Zug und Druck. All diese Elemente müssen in einer feinen Balance stehen, um eine möglichst gute Koordination zu erlangen. 

Wenn wir aufrecht stehen oder uns bewegen, ist eine gewisse Energie nötig, um diese Balance herzustellen und die Schwerkraft auszugleichen. Wenn wir zu wenig Energie aufwenden, sinken wir nach unten. Wenn wir zu viel Energie aufwenden, entstehen Problem die vielleicht nicht gleich so offensichtlich sind. Wir können die Fußgelenke fixieren oder die Zehen in den Boden drücken. Ein Teil der Fußsohle (meistens die Innenseite) hebt sich vielleicht ein wenig vom Boden ab, oder wir versuchen die Wirbelsäule mit übermäßiger Spannung zu stabilisieren. Vielleicht spannen wir den Nacken an oder ziehen die Schultern zusammen. Wir investieren mehr Energie als nötig und fixieren unsere Gelenke auf Kosten unserer Beweglichkeit und Flexibilität. Dieser übermäßige Einsatz von Kraft führt zu einem Verlust von Leichtigkeit und Balance.  Um eine dynamische Koordination in die Bewegung zu integrieren ist eine ausgeglichene Balance zwischen diesen Kräften nötig.

Bei Körperarbeit, Tanz oder Sport hört man oft die Anweisung sich „zu erden“ oder den „Kontakt mit dem Boden“ zu suchen. Wie genau „erde“ ich mich oder was mache ich wenn ich „mit dem Boden Kontakt aufnehme“? Ich glaube es geht darum mit der Schwerkraft zu kooperieren und mit ihr in einen ausgeglichenen Dialog zu treten; eine Balance die weder dazu führt, dass ich nach unten sinke, noch dass ich mich fixiere.

Experiment im Stehen

Anbei eine Möglichkeit, wie man mit dieser Aufrichtung durch „Erdung“ experimentieren kann. Mir geht es dabei eher darum eine Idee zu vermitteln als den Prozess restlos zu beschreiben. Es ist durchaus möglich dieses Experiment mit eigenen Ideen zu erweitern.

Unsere Füße sind erstaunlich klein, wenn man bedenkt, dass wir darauf  einen Großteil unseres Tages verbringen. Trotz ihrer geringen Größe stehen wir auf ihnen meistens recht stabil und sie ermöglichen uns einen enormen Bewegungsspielraum.

Stelle dich auf eine ebene Fläche, die Füße etwa hüftbreit. Versuche während dem ganzen Experiment deine Umgebung zu sehen und auch die Dinge in der Peripherie des Gesichtsfeldes wahrzunehmen. Ist es möglich nicht nach Innen zu sinken und trotzdem an dir zu arbeiten? Es kann hilfreich sein wenn es in der Nähe etwas Interessantes zu beobachten gibt.

Das Stehen ist eine dynamische Position und jede Millisekunde werden zahlreiche Nervenimpulse von den Muskeln zum Gehirn und vom Gehirn zu den Muskeln gesendet. Das Gleichgewichtsorgan im Ohr, die Augen und anderen Sinne sind an dieser Balance beteiligt. Ist es möglich das Stehen als dynamische Balance, als einen fließenden Prozess wahrzunehmen?

Das Kopfgelenk befindet sich von vorne gesehen in etwa auf Nasenhöhe und seitlich gesehen circa zwischen den Ohreingängen. Es ist meist höher als wir es intuitiv vermuten würden. Beobachte die Balance deines Kopfes auf der Halswirbelsäule ohne etwas zu verändern oder einzugreifen. Kann der Kopf auf diesem Gelenk frei und geschmeidig balancieren?

Ist es möglich, Spannung im Schulterbereich loszulassen und sich vorzustellen, dass die Schultern voneinander weg zeigen? Denke an die Distanz vom Schambein bis zum oberen Rand des Brustbeines und an die Distanz vom Steißbein bis zum letzten Halswirbel. Ist es möglich, sich den ganzen Rumpf lang, weich und weit vorzustellen? Wie ist es mit den Seiten deiner Rippen? Denke daran den Blick nach außen gerichtet zu lassen und deine Umgebung zu beobachten.. Du kannst auch versuchen, die Geräusche im Raum wahrzunehmen.

Stelle dir die Verbindung vom Rumpf mit den Beinen über die Hüfte vor. Zahlreiche Muskeln stellen diese Verbindung her. Ist es möglich, Spannung in diesem Bereich gehen zu lassen? Wie ist es mit den Kniegelenken? Ist es möglich sie weder bis zum Anschlag durchzustrecken noch sie zu beugen, so dass auch hier eine weiche, balancierende Atmosphäre entstehen kann? Wie ist es mit den Fußgelenken? Sind sie beweglich, weich? Stelle dir vor wie deine Fußsohlen und Zehen sich am Boden ausbreiten können, weich und geschmeidig werden. Achte darauf, die Zehen nicht zu bewegen sondern diese Richtungen ausschließlich zu denken.

Versuche während dem ganzen Prozess das Stehen als fließende Bewegung wahrzunehmen, ohne dabei bewusst die Bewegung zu initiieren.

Zwei Seiten einer Münze

Wir verbünden uns mit der Schwerkraft, so dass sie uns dabei hilft die Verbindung zum Boden aufzubauen und dadurch eine Ausrichtung nach Oben entstehen kann. Es sind zwei Richtungen, die eine Einheit bilden – zwei Seiten ein und der selben Münze. Man könnte es auch so sehen: Die Schwerkraft ist unsere Verbündete und der natürliche Zustand ist es, mit ihr zu kooperieren. Exzessive Spannung greift störend in diesen subtilen Mechanismus ein. Durch das Gehenlassen dieser unnötigen Spannungen entsteht eine balancierte Ausrichtung nach oben, wodurch die „Erdung“ besser erlebbar wird.